Über Gewichtsdiskriminierung in der Gesundheitsversorgung
- Samson Grzybek
- Köln
Julia Krause, Sie haben ein Fachbuch über Gewichtsdiskriminierung in der Gesundheitsversorgung geschrieben. Was hat Sie dazu bewegt, dieses Thema aufzugreifen – und warum gerade jetzt?
Das Thema arbeitete unterbewusst schon lange in mir, weil ich selbst betroffen bin und mich bei einer Vielzahl an Ärzt*innen unwohl fühle. Während meines Soziologiestudiums habe ich immer mehr Strukturen von verschiedenen Diskriminierungen kennengelernt und festgestellt, dass Lookismus ein großes Thema ist, aber meines Erachtens zu wenig behandelt wird. Als ich dann noch das Forschungsfeld der Fat Studies entdeckt habe, haben sich mein Fachwissen und meine eigenen Erfahrungen zusammengefügt und mir wurde klar, dass ich zu dem Thema meine Masterarbeit schreiben würde. Da die Abwertung von hochgewichtigen Personen eng mit Gesundheitsdiskursen zusammenhängt, lag die Entscheidung nah, sich den unterschiedlichen Zugängen bzw. Ausschlüssen zu Gesundheitsversorgung zuzuwenden. Ich habe während der Masterarbeit so viel Zuspruch erhalten, dass ich mich entschieden habe, die Arbeit noch etwas zu erweitern und zu veröffentlichen.
In der momentanen politischen Lage, in der sowohl im Ausland als auch in Deutschland Grundrechte von marginalisierten Personen immer weiter eingeschränkt werden und viele Staaten trotz Gerichtsurteilen wissentlich die Menschenrechte missachten, halte ich es für sehr wichtig, sich gegen die Ungleichbehandlung von Menschen grundsätzlich einzusetzen z.B. durch stetige Auseinandersetzung mit den Missständen. Da ich mich in den letzten Jahren vor allem mit Gewichtsdiskriminierung auseinandergesetzt habe, ist das mein vordergründiges Thema.
Viele Menschen denken bei Diskriminierung zunächst an Themen wie Rassismus, Klassismus oder Queerfeindlichkeit – Gewicht wird oft ausgeklammert. Was genau verstehen Sie unter Gewichtsdiskriminierung im medizinischen Kontext, und woran lässt sie sich erkennen?
Gewichtsdiskriminierung im medizinischen Kontext bedeutet, dass medizinisches Personal hochgewichtige Patient*innen von Untersuchungen und Behandlungen ausschließt, die normgewichtige Patient*innen erhalten. Oder dass diese Maßnahmen verzögert werden. Ein typisches Beispiel ist, wenn hochgewichtige Personen erst einmal versuchen sollen abzunehmen, um bestimmte Beschwerden zu lindern, und erst anschließend weitere Untersuchungen oder Behandlungen in Betracht gezogen werden. Mögliche andere Ursachen werden dadurch verspätet oder gar nicht entdeckt. Darüber hinaus kommt es bei hochgewichtigen Personen regelmäßig zu einer Unterdosierung von Medikamenten, was Krankheitsverläufe negativ beeinflusst – mit teilweise drastischen Auswirkungen.
Ein weiteres Beispiel ist, wenn Patient*innen mit Beschwerden zu Ärzt*innen gehen, die nichts mit Körpergewicht zu tun haben, bzw. grippale Infekte oder ähnliches, die medizinische Fachperson aber dennoch Ernährungs- und Bewegungsweisen problematisierend anspricht. Häufig wird den Aussagen von Patient*innen zu den Themen außerdem nicht geglaubt. Das heißt, die Annahmen der Ärzt*innen stehen über der Selbsteinschätzung der Patient*innen, was zu gefährlichen Situationen führen kann.

Welche Folgen kann es für Patient*innen haben, wenn sie aufgrund ihres Gewichts nicht ernst genommen oder unzureichend behandelt werden – psychisch wie physisch?
Offensichtlich dürfte bisher geworden sein, dass es häufig zu einer schlechteren Gesundheitsversorgung kommt. Das bedeutet folglich ein schlechterer physischer Gesundheitszustand. Darüber hinaus prägen die Erfahrungen natürlich die Psyche der Patient*innen. Wem häufig nicht geglaubt wurde, verliert Vertrauen in die eigene Perspektive. Wem nicht geholfen wurde, verliert Vertrauen ins Gesundheitswesen. Wer von medizinischem Personal gefatshamed wird, entwickelt größere Schamgefühle und somit entstehen Hürden, den nächsten Kontakt zum Gesundheitswesen zu suchen. Auch auf das Selbstwertgefühl hat es negativen Einfluss und Essstörungen sind häufige Folgen.
Scham und psychische Belastungen sind für fast alle meiner Interviewpartner*innen ein großes Thema.
Welche spezifischen Erfahrungen machen behinderte, queere und/oder rassifizierte Patient*innen?
Das Ausmaß an erfahrener Gewichtsdiskriminierung fällt umso höher aus, je hochgewichtiger die Patient*innen sind und je mehr sie von weiteren Diskriminierungsformen betroffen sind.
CN: Transfeindlichkeit
Ein*e nicht-binär trans männlich Befragte*r berichtete davon, dass der Zugang zu Testosteron aufgrund der Sorge um Gewichtszunahme im Kontext der häufig mit Testosteron einhergehenden Appetitzunahme erschwert wurde. Ebenso wurde der Weg zur Mastektomie durch das Argument behindert, die Körperdysphorie würde ggf. geringer ausfallen, wenn Gewicht reduziert würde.
CN: Ableismus
Eine Interviewpartnerin hat erst aufgrund der Nebenwirkungen von Medikamenten für schwerwiegende Krankheiten an Gewicht zugenommen. Im Anschluss daran machen manche Ärzt*innen ihr Gewicht für ebendiese Erkrankungen verantwortlich. Auch wird ihr geraten, sich mehr zu bewegen, obwohl sie das aufgrund von Rheuma und Arthrose nicht kann.
CN: Rassismus
Die gleiche Interviewpartnerin wird als Schwarze Person im medizinischen Kontext regelrecht beleidigt. Da Dickenfeindlichkeit als Katalysator genutzt wird, um andere marginalisierte Gruppen, wie beispielsweise BIPoO-Communities, anzugreifen, deren direkte Adressierung allerdings deutlich mehr Widerspruch erregen würde, ist davon auszugehen, dass dies aus einer rassistischen Intention heraus passiert.
In Ihrem Buch zeigen Sie, dass Gewichtsdiskriminierung keine Einzelerfahrung ist. Wie tief ist dieses Problem in den Strukturen unseres Gesundheitssystems verankert?
Sehr stark. Besonders problematisch ist die Zuschreibung von Schuld. Die hochgewichtigen Personen werden dafür verantwortlich gemacht, dass sie nicht in die Normwerte passen, woraus für viele eine vermeintliche Legitimation zur Beschämung entsteht. Das Denken ist sowohl im Gesundheitswesen als auch in allen anderen Teilen unserer Gesellschaft stark verbreitet. Dabei kommen verschiedene Studien zu dem Schluss, dass die individuellen Möglichkeiten zur Kontrolle des eigenen Gewichts deutlich begrenzter sind, als allgemein angenommen wird.
Die Zuschreibung der Eigenverantwortung für die Gesundheit und damit für einen normgewichtigen bzw. dünnen Körper sorgt aber für weiteren Stress, der sich wiederum negativ auf die Gesundheit auswirkt. Es ist ein Teufelskreis, aus dem wir als Gesellschaft nur herauskommen, indem wir unterschiedliche Körper als gleichwertig anerkennen und Stigmatisierungen abbauen.
Welche Rolle spielen medizinische Leitlinien, Ausbildung und gesellschaftliche Vorstellungen von „gesund“ und „krank“ bei der Reproduktion von Gewichtsdiskriminierung?
Eine immense. Das Problem ist, dass sämtliche Studien der vergangenen Jahrzehnte, die Dicksein als ungesund konstruieren, Verzerrungseffekte aufgrund anderer Einflussfaktoren wie Stress, Diskriminierungserfahrungen, Genetik, Diäten und Armut aufweisen.
Das kommt auch daher, dass der Ursprung der Gleichsetzung von Krankheit mit Dicksein aus Schönheitsidealen herrührt. Als sich das Schlankheitsideal Anfang des 20. Jahrhunderts immer weiter herauskristallisierte haben sich lange Zeit noch Mediziner*innen dagegen eingesetzt und vor den gesundheitsschädigenden Auswirkungen gewarnt. Auch die Einteilung von Grenzwerten für Idealgewicht stammt nicht aus der Medizin, sondern aus dem Bereich der Lebensversicherungen. Mit der Zeit hat sich das Schlankheitsideal aber auch in der Medizin eingenistet.
Das Schlankheitsideal ist folglich allzeit präsent, sodass die Studien von fettfeindlichen Vorannahmen geprägt sind, die dementsprechende Ergebnisse hervorbringen. Dieses vermeintliche Wissen bildet sowohl gesellschaftliche Vorstellungen als auch medizinische Perspektiven.
Viele Betroffene entwickeln mit der Zeit Strategien, um sich zu schützen – andere meiden ärztliche Besuche ganz. Was wünschen Sie sich von medizinischem Personal, um wieder Vertrauen aufzubauen?
Das Personal sollte Patient*innen zuhören und ernst nehmen. Darüber hinaus sollte es sich gewichts- bzw. diskriminierungssensibel weiterbilden. Das heißt, nicht zulassen, dass Vorurteile über den Gesundheitszustand gegenüber der Patient*innen das eigene (Be-)Handeln leiten.
Welche Verantwortung tragen Ärzt*innen, Therapeut*innen und andere Fachkräfte – und wie können sie beginnen, diskriminierungssensibler zu arbeiten?
Sie tragen große Verantwortung, indem sie über den Zugang zu medizinischer Versorgung entscheiden. Darüber müssen sie sich im Klaren sein und daher möglichst zugänglich, vertrauensvoll und individuumsbezogen auftreten. Professionelle Weiterbildung ist daher ein Muss. Darüber hinaus muss das Wissen von den medizinischen Fachkräften auch angewendet werden, indem sie ihr eigenes Vorgehen stets hinterfragen und anpassen. Eine Leitfrage könnte für sie sein: Wie würde ich eine dünne Person in dieser Situation behandeln?
Sicherlich gibt es gesundheitliche Einschränkungen, bei denen über eine Ernährungsumstellung gesprochen werden sollte. Aber das sollte nicht die einzige Lösung sein – und die muss realistisch umsetzbar für die Patient*innen sein. Es muss folglich gemeinsam ein individuelles Vorgehen herausgearbeitet werden.
Zum Schluss: Gibt es etwas, das Sie insbesondere queeren, neurodivergenten oder mehrfach diskriminierten Menschen mit auf den Weg geben möchten, die negative Erfahrungen im Gesundheitssystem gemacht haben?
Ich habe einiges, was ich gerne allen (gewichts-)diskriminierten Personen mitgeben möchte. Für mehrfach marginalisierte Menschen dürfte das aber noch einmal mehr Relevanz haben, da sie eben auch stärker von den Diskriminierungen betroffen sind.
Macht euch klar, dass ihr keine individuellen Erfahrungen macht, sondern es eine systematische Ungerechtigkeit ist. Sie ist nicht gerechtfertigt und ihr habt sie nicht verdient. Verbündet euch und tauscht euch aus.
Setzt euch mit der Fat Acceptance Bewegung auseinandersetzen. Die Aktivist*innen haben über Jahrzehnte für die Rechte von hochgewichtigen Personen gekämpft und bieten viele hilfreiche Tipps auch für die Veränderung der eigenen Perspektive auf Körperformen sowie den Umgang mit dem Gesundheitswesen.
Was ihr konkret für den nächsten Termin im Gesundheitswesen machen könnt: bereitet euch emotional vor, legt euch eine Strategie und Argumente bereit und nehmt euch eine Begleitperson mit!
Vor allem aber: sucht euch die passenden Praxen aus. Queermed Deutschland ist eine wundervolle Plattform dafür. Profitiert von den Erfahrungen und Tipps anderer und unterstützt damit sowohl eure Gesundheit als auch medizinisches Personal, das sich um eine diskriminierungssensible Behandlung bemüht!
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